Portrait Stephan Sachs
Dr. Eva M. J. Schmid
epd Film | 05/1985 | 1985


Stephan Sachs studierte zwei Jahre an der Kunstakademie in Nantes und fünf Jahre in Düsseldorf. Als Film-Macher ist er Autodidakt. Die Kamera ist aber für ihn kein Aufzeichnungsgerät vorgefundener oder inszenierter Ereignisse, die sich vor dem Objektiv abspielen, sondern ein Instrument, dessen Möglichkeiten es auszuprobieren gilt. Die Bilder und Bewegungen, die er einfängt, die akustischen Mitteilungen die das Gezeigte begleiten, werden autonom begriffen.

Von seinen filmischen Experimenten kenne ich fünf; 'nur' fünf, denn Sachs hat mehr produziert als diese und hat auch mit Projektionen experimentiert, z.B. auf konvexen Flächen. Dabei ergaben sich Vorführungen, die mit bewegten Rezipienten rechneten. Darüber kann ich nicht schreiben, ich kenne nur Fotos der Installationen. Gesehen habe ich also fünf Filme aus vier Jahren. Stephan Sachs finanziert seine Experimente selber. Das Geld verdient er als Kameramann bei freien Produktionen. Er lebt in Düsseldorf.

1. Das Bedeutungsspiel mit den Filmtiteln spielt Sachs ebenso gern wie das viele andere Experimentalfilmer machen. Der früheste Film von ihm, den ich sah (ich folge der Chronologie), heißt FA(H)R (WEIT). Das ist wörtlich zu nehmen, aber das englische 'far' = weit, fern ist mitgemeint. Sachs variiert Flächenteilungen, Linienzüge, sich verändernde Formate, Tiefenillusionen. Er benutzt reale Aufnahmen: Blicke über die Schiffsreling, Blicke aus Eisenbahnfenstern. Die realen Horizontalen: Horizont, Reling, Schienen, Drähte, die Querteilung im Zugfenster, pulsieren steigend und sinkend in linearem Spiel, das aus der Waage rechten sich zur Diagonale steigert. Ein Formthema, das die Diagonale der Trossen beim Ablegen vom Kai zu Beginn bereits anklingen läßt. Doch wird auch mit 'Bildern im Bild'—minimal, aber unübersehbar—gearbeitet, und eine 'umgedrehte' Korridorfahrt evoziert 'Guckkasten'.

2. 'tourner' heißt auf deutsch 'drehen, richten, wenden'. 'ca tourne' = das dreht sich. Sachs hat diesen Film SATOURNE genannt. Wieder setzt er seine Mittel 'spar sam' ein. Er dreht sich mit der Kamera. Man sieht Teile eines Panoramaschwenks und ein Hin und Her. Aber: man sieht mehr. Mit Hilfe eines Metallkleiderbügels hat Sachs eine Glasscheibe etwa im Din-A-4 Format in einem Winkel von 45° an die Kamera geklemmt. Er filmt durch diese Scheibe, in der sich der Blick nach oben spiegelt. Oder sollte ich sagen: der Blick der Baumkronen, Palmwedel, Blätterkränze nach unten? Und in dieser Perspektive dreht sich die Natur ornamental um das Bildfeld herum, besetzt die Ränder. Der Bildeindruck variiert nun je nach dem Lichteinfall, der die Schatten auf der Scheibe durchsichtig oder opak erscheinen läßt. • Diese Art von gleichzeitiger Doppelbelichtung ermöglicht es, mit einem Blick zwei Richtungen zu erfassen, zwei Räume. Und der transparente Charakter von Filmbildern wird dia-positiv-artig intensiviert.

3. Der dritte Film von Sachs, den ich gesehen habe, heißt DlE INSEL. Er ist in Zusammenarbeit mit Jean François Guiton entstanden. Ein scheinbar konventioneller Film, in dem aber der gewohnte Kameragebrauch denunziert wird: beliebiger Text, beliebig illustriert. Ein komischer Film. Bei Film-Kennern ist er ein Lacherfolg. Beim Frühstück im kitschigen Ambiente eines Hotels sitzen sich zwei Männer gegenüber. Den ganzen Film lang erzählt der eine dem anderen von einer Südseereise. Dieser Ton liegt wie ein Teppich unter dem ganzen Film, asynchron. Der Erzähler spricht zwar auch, aber spult vermutlich seine xte Fassung der Story ab. Synchron sind dagegen die Geräusche. Der Zuhörer—im Film und vor der Leinwand "stumm"—ist gelangweilt. Die Kamera zieht sich schließlich —ebenso gelangweilt—zurück und nimmt Details aus dem benachbarten Raum ins Bild: roter Teppich, rote Tapete, rote Sesselbezüge. Laut, aufdringlich und auch langweilig. Die Möbel sind weiß. Pflanzen bieten ein schein-exotisches Arrangement. Ein Spiegel wirkt wie ein leeres Bild. Da zwischen immer wieder immer distanziertere Blicke auf die beiden Männer. Der Text plätschert dahin. Zuweilen ergeben sich groteske Übereinstimmungen zwischen er zählten Details und gezeigten Fragmenten aus dem dargestellten Raum. Weder die verbale Mitteilung noch der Blick auf die Ausschnittformen der Gegenstände schließen sich kompositionell zu narrativer Aussage zusammen. Von einer Insel wird erzählt, inselhaftes Da-Sein wird demonstriert. Zustand. Stilleben einer verkitschten Wohlstandsgesellschaft. Kritik, die am Detail abgehandelt wird. Kritik auch am Medium, Kritik am Gebrauch des Mediums.

4. SLOT ist ein norwegisches Wort und bedeutet 'Schloß'.
– SORIA MORIA ist ein Eigenname – das ganze Titel eines Märchens. Dieses wird im Film vorgelesen, von einem norwegischen Mädchen namens Siri (den Namen erfahren wird aus der Stabliste). Das Märchen selbst bekommen wir nicht zu hören. Wir sehen der Interpretin nur beim Vorlesen zu, sehen ihr Gesicht, das Buch, das Umblättern, den Lese-Vorgang. Der Gesichtsausdruck vermittelt Veränderungen im Text. Spannungselemente. Die Großaufnahmen des lesenden Mädchens wechseln mit Einstellungen von 'Natur': Waldboden, Baumstämme, ganze Bäume schließlich, ein Wald. Die Kamera schaukelt sich langsam hoch, immer mehr 'Sicht bares' anbietend. Das 'Sehen' assoziiert 'Lauschen'. Zwischen den beiden Ebenen: Siri/der Wald, wird farbig unterschieden. Warme, vorwiegend Rottöne bei dem Mädchen, die Natur ist graugrün, staubig dunkelgrün, blaustichig. Der Film hat einen Prolog. Wie eine Fata Morgana schwimmt eine Insel im grauen Meer. Ein Segelboot gleitet von links nach rechts über die Fläche. Die Kamera schwebt über den Wassern. Was hier als Traum zu beginnen scheint, wird im lapidaren Stil des Bildwechsels gleichzeitig gesteigert und aufgehoben. Film entsteht in meinem Kopf. Wie viel verbale Information hat die filmische Bilderschrift nötig, auch wenn sie noch so sparsam eingesetzt wird—wenn sich doch mein Denken das Geschaute ständig in Worte übersetzt? Ich mir ständig ein Bild mache, ich im Bilde bin? Der Filmprolog wird mit 'angespielter' verfremdeter Musik begleitet: Bartok—kaum kenntlich. Auch ein seltsamer gläserner Pfeifton, der außer einem fast nicht wahrnehmbaren Summen zuweilen während der Waldaufnahme einsetzten, soll aus einem Ton der Musik entstanden sein.

5. Alle Filme von Stephan Sachs handeln von Sehnsüchten, Fantasien, Erinnerungen. Das Thema kulminiert in LE DAUPHIN, Auch dies ein denunziatorischer Film. Exotik wird als Klischee angeboten, aber dem Rezipienten wird hier die Chance zum kulinarischen Erleben nicht nur gelassen, sie wird ihm aufgedrängt. Er wird mit einbezogen in die Mentalität der Aussage, begreift sich selber als Kitsch-anfällig. Alles Gezeigte jedoch ist unwahr. Die Exotik findet im Gewächshaus statt, im Aquarium, die Wellen eines nördlichen Meeres werden zur Südsee, Südfrankreich zu Mexiko, die Rhododendron-Wälder der Bretagne zum Tropenwald. Illusionen. — Hier spielt Sachs differenzierter mit der Farbe als in den anderen Filmen: FA(H)R WEIT ist— abgesehen vom Anfang (blauer Anstrich, orangener Overall) eigentlich fast farblos. In SATOURNE gibt es zu Beginn und am Schluß kleine rote Farbtupfer: Blüten? Aber sonst wiegt hier ein türkisener Ton vor, der immer wieder mit gelben Lichtflächen durchsetzt wird. DIE INSEL ist penetrant 'bunt' gegen weiß-rot komponiert. In SORIA MORIA SLOT wechselt die Farbstimmung mit dem Bildthema—dazu hat sie natürlich immer eine bewußte Beziehung! Im Film LE DAUPHIN schließlich scheinen alle Farberfahrungen sich zu vereinen: pulsierendes Gelb, sattes Grün, bebendes dunkles Türkis, transparentes Blau, die Goldflitter auf den Fischleibern—ein Kaleidoskop in Zeitlupe. Aber nicht formalistisches Farbspiel, sondern aussagend, bedeutend. Nicht nur formal (und das bezieht sich nicht nur auf die Farbe) scheinen die Filme von Sachs, die ich kenne, sich im nachhinein als Vorstudien zum DAUPHIN erkennen zu lassen. Hier kommt nach den Etüden für je ein Instrument oder eine Gruppe das volle Orchester.

Ich würde gern noch über das Verhältnis des Film-Machers zur Perspektive schreiben, zur Arbeit mit Flächen und wie stark bei ihm Tiefe stets das Ergebnis von Bewegung zu sein scheint—aber: dann wird mein Beitrag für diese Zeitschrift zu lang! Doch eins ist mir noch sehr wichtig: stärker als in den anderen Filmen von Sachs, noch stärker, wird in LE DAUPHIN das Körpergefühl angesprochen. Die Motorik. Und die Wechsel der filmischen Bewegungen ergeben freie Rhythmen, in denen man beim Betrachten zum vorgestellten Mit-Tanzen stimuliert wird. Stephan Sachs arbeitet mit einer selbstgebauten optischen Bank. Die Geräte stammen vom Flohmarkt. Schrott, den Sachs für seine Zwecke ergänzt, umbaut. Er arbeitet mit geborgten Kameras und Projektoren. Er bastelt sich die Zusatzgeräte, die er braucht, je nach den Bedingungen seiner Arbeit, selbst. Seine Filme entstehen im Schnitt. Erst die Montage macht ihm bewußt, welche Aufnahmen er braucht. Dann dreht er zusätzliches Material neu. Manchmal bleibt so—wie im DAUPHIN— von der Ausgangsfassung kaum noch etwas übrig! Sachs arbeitet nach Partituren, nach gezeichneten Skizzen, nach zum Teil ausgezählten Takten, zum Teil nach gefühlten Rhythmen. Er probiert aus, entwickelt teilweise selber die Filmstreifen, betrachtet sein Material so oft am Schneidetisch, bis es, sich verselbständigend, ihm die endgültige Aussage demonstriert. Dann bekommt der Film in seiner Vorstellung Gestalt, der folgt er dann, beim Drehen und bei der weiteren Montage, auch bei den Verfremdungen des Materials, mit denen er die eigentlichen Wirkungen erzielt, aus Wirklichkeit Wahrheit macht. Er behält den intellektuellen Abstand, bleibt sich der Methode bewußt (jedenfalls bis zu einem gewissen Grade) und ironisiert sie in dem, was er schließlich als fertigen Film anbietet. Fabrizierte Wirklichkeit.

So wie er die optische Mitteilung verfremdet, mit seinen Bildern durch Bewegungen der Kamera und der Schnittfolgen von Einzelbildern, mit Brüchen, durch Bildauslassungen konzertiert, so spielt er auch mit dem Ton. Das Summen der Insekten zum Beispiel, der Wind, den wir zu hören meinen, entsteht auf Cello-Saiten. Der Cellist fantasiert. Der Musiker, der mit Sachs an LE DAUPHIN gearbeitet hat, malt selber. Es ergab sich eine echte Kooperation. Auch mit den musikalischen Zitaten wird verfremdend gespielt. Auch hier Frequenzveränderungen. Bach wird auf diese Weise verschnulzt und Bartok dämonisiert, aber sie werden seltsamerweise spezifischer, 'charakteristisch'. Die dramatische Überhöhung der Bildwirkung durch den Ton wird absichtlich überzogen. Ironie auch hier? Ich kenne wenig Filme, die mir so geeignet scheinen, Film als Illusion begreifbar zu machen. Wir scheinen uns dem Verständnis, was Film eigentlich ist, langsam zu nähern.